16.12.2020 Klimakrise Das 1,5-Grad-Limit ist Geschichte. Was das bedeutet

Vor fünf Jahren einigte sich die Staatengemeinschaft auf eine zusätzliche Erderwärmung von maximal 1,5 Grad Celsius. Die wird in wenigen Jahren erreicht sein. Dann brauchen wir ein neues – und besseres – Ziel....

16.12.20 –

Vor fünf Jahren einigte sich die Staatengemeinschaft auf eine zusätzliche Erderwärmung von maximal 1,5 Grad Celsius. Die wird in wenigen Jahren erreicht sein. Dann brauchen wir ein neues – und besseres – Ziel

+++ Kolumne "Alles im grünen Bereich" +++

Vor fünf Jahren waren 1,5 Grad mal ein Grund zum Feiern: in Paris, im Dezember 2015. Die Welt hatte sich darauf geeinigt, die menschengemachte Erderwärmung bei „deutlich unter“ zwei, „möglichst“ bei 1,5 Grad Celsius gegenüber vorindustriellen Zeiten zu stoppen. Ein Durchbruch der internationalen Klimadiplomatie, der geradezu hysterisch bejubelt und gefeiert wurde.

Heute stehen wir bei 1,1 Grad. Der vorübergehende Rückgang der Emissionen durch die Corona-Pandemie ändert nichts daran, dass wir schon in einem der kommenden Jahre eine Durchschnittstemperatur von plus 1,5 Grad messen werden, eine weitere Aufheizung der Atmosphäre ist so gut wie unvermeidlich. Der einst gefeierte Wert löst heute nur noch Verdrängungsmechanismen aus. Sie heißen „E-Mobilität“, „Wettbewerbsfähigkeit“ oder einfach „Klimaneutralität“. Wie konnte es so weit kommen?

Gegen den Wert an sich ist nichts einzuwenden. Eine Erwärmung von zusätzlichen 1,5 Grad Celsius ist ein wissenschaftlich gut abgesicherter Schwellenwert. Diesseits, so die begründete Annahme, sind Klimaprozesse mit einiger Sicherheit noch kontrollierbar, ist eine Heißzeit vermeidbar. Jenseits eher nicht.

Doch fünf Jahre seit Paris sind die Emissionen weiter gestiegen, weder die Ambitionen noch die Taten der Unterzeichnerstaaten reichen auch nur annähernd aus. Mit jedem weiteren Jahr, das verstreicht, sinkt die Wahrscheinlichkeit, unter dem kritischen Wert zu bleiben, gegen null.

Aufforderung zum Nicht-genug-Tun

Es zeigt sich: Das 1,5-Grad-Ziel war eine Aufforderung zum Nicht-genug-Tun. Der Glaube, ein wissenschaftlich gut begründbarer Grenzwert werde sich schon irgendwie in kollektives Handeln übersetzen, hat sich als Irrtum erwiesen. Politischen Druck gab und gibt es zwar, nicht zuletzt durch beispiellose Klimademonstrationen wie im September 2018. Das politische Handeln aber hat er kaum verändert. Auch im Jahr 2020 werden in Deutschland Dörfer für Braunkohle abgebaggert, wird Wald für Autobahnen gerodet.

Vielleicht war der entscheidende Fehler von Seiten der Wissenschaft, überhaupt einen Korridor anzugeben, innerhalb dessen wir vermeintlich sicher so weiterleben können wie bisher. Das 1,5-Grad-Limit ist kein Thermostat. Die verbleibende Zeit nutzten die Unterzeichnerstaaten des Paris-Abkommens vor allem dazu, in Verhandlungen den eigenen (Wettbewerbs-)Vorteil zu suchen und dabei möglichst engagiert auszusehen.

Was passiert jenseits von "1,5 Grad"?

Und es zeigt sich noch ein weiteres Problem des Schwellenwerts: Denn was passiert, sobald der Wert erreicht oder überschritten ist? Machen wir den Korridor dann einfach etwas weiter? Zwei Grad, 2,5 Grad, und so weiter? Die angenommene politische Wirksamkeit und Verpflichtungswirkung, die Glaubwürdigkeit würde dann vollends verpuffen. Für die Klimakommunikation der kommenden Jahre wird es eine gewaltige Herausforderung sein, jenseits des als gerade noch sicher geltenden Werts neue, publikumswirksame Ziele zu definieren.

Anders gesagt: Wird Fridays for Future in zehn Jahren für die Einhaltung des Zwei-Grad-Ziels demonstrieren? Aus klimawissenschaftlicher Sicht machen 3, 3,5 oder 4 Grad am Ende dieses Jahrhunderts zwar einen enormen Unterschied. Aber gehen kurz vor dem nächsten Toresschluss noch einmal Millionen auf die Straße? Oder für beliebige Zehntelgrade dazwischen, die ebenfalls einen für viele Menschen existenzbedrohenden Unterschied machen? Das Mobilisierungs- und Motivationspotenzial von weiteren Zwischenschritten auf dem Weg in die Klimakatastrophe dürfte in den Wohlstandsgesellschaften begrenzt sein - außer, die Folgen treffen sie selbst.

Die jüngste Geschichte zeigt: Schwellenwerte taugen nicht als Antrieb und Richtschnur eines dringend notwendigen gesellschaftlichen Umbaus. Denn der Klimawandel, das sind wir selbst. Wir wissen längst, dass wir ökologisch weit über unsere Verhältnisse leben. Dass wir auf Kosten anderer leben. So wichtig es auch in kommenden Jahrzehnten sein wird, unsere Emissionen und unseren exzessiven Naturverbrauch zu senken: Wir müssen statt über verdrängungsfördernde Temperaturlimits endlich über Gerechtigkeit sprechen. Und zwar ehrlich.

 

Peter Carstens

 

  Peter Carstens

Seit 2002 Redakteur bei GEO online. Seine Themen: Natur, Umwelt und Nachhaltigkeit, Klimawandel und Green Living. E-Mail: carstens.peter@remove-this.geo.de

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